Nahaufnahme: Tabletdisplay zeigt einen salafistsichen Prediger.

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Wie verläuft eine Radikalisierung?

Radikalisierung verläuft in einem Prozess. Jeder solche Radikalisierungsprozess ist individuell. Es gibt kein allgemeingültiges Muster. Man darf sich Radikalisierung also nicht als einen geradlinigen Prozess vorstellen, an dessen Ende die Anwendung von Gewalt steht. Ein Radikalisierungsprozess kann, muss aber nicht zu Extremismus oder gar Gewalt führen.

Wie stark ist ein Mensch schon radikalisiert? Oft kann zur Beurteilung sein Verhältnis zu politisch oder religiös begründeter Gewalt dienen. Befürwortet er ideologisch motivierte Gewalt? Unterstützt er sie sogar? Konsumiert er die Propaganda von Gruppen, die Gewalt befürworten oder ausüben? Verbreitet er sie? Trifft dies zu, kann man davon ausgehen, dass die Person eine sehr bedenkliche Phase der Radikalisierung erreicht hat.

Sehr oft begegnen Menschen salafistischem Gedankengut erstmals im Internet. YouTube-Videos, die zunächst nicht als extremistisch zu erkennen sind, führen über Links, Schritt für Schritt, immer weiter zu radikaleren salafistischen Inhalten. Eine Radikalisierung ausschließlich im Internet ist jedoch eher die Ausnahme. Meist ist die unmittelbare und persönliche Kontaktaufnahme mit Extremistinnen und Extremisten z. B. aus der salafistischen Szene notwendig. Häufig werden Betroffene über WhatsApp oder Facebook zum Gebet in extremistische Moscheen oder Gebetskreise eingeladen. So kommen sie in Kontakt mit Personen aus dem radikalen salafistischen Spektrum. Gerade im Bereich des Salafismus ist oft ein besonders schneller Übertritt zum von Salafisten gepriesenen „wahren Glauben“ zu beobachten.

Radikalisierung

„Radikalisierung ist ein Prozess persönlicher Entwicklung, in dessen Verlauf eine Person immer radikalere Ideen und Ziele verfolgt und dabei zunehmend überzeugt ist, dass das Erreichen dieser Ziele den Einsatz extremer Methoden bis hin zur Anwendung von Gewalt rechtfertigt.“


Radikalisierung im Modell

Im Folgenden stellen wir im Modell vor, wie Radikalisierung ablaufen kann. Wichtig ist: 1. Es handelt sich um eines von vielen aktuellen Modellen, die Radikalisierung beschreiben. 2. Die einzelnen typischen Phasen der Radikalisierung sind vereinfacht dargestellt. In der Praxis gibt es natürlich viele Abweichungen. Das bedeutet: Das Modell ist nicht allgemeingültig – doch es kann eine erste, anschauliche Orientierungshilfe bieten!

Das Modell beschreibt die Radikalisierung eines Menschen aus einem westlichen Heimatstaat zum islamistischen Terroristen. Zur Verfügung gestellt hat es das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz.

Lesetipp: „Radicalization in the West: The Homegrown Threat“

1. Unmut, „Präradikalisierung“

Ausgangspunkt ist in der Regel ein Gefühl der Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation. Das kann ein Gefühl der Entwurzelung oder Diskriminierung oder der mangelnden Akzeptanz sein. Seiner selbst nicht sicher zu sein, nach der eigenen Identität zu suchen: Das ist bei Jugendlichen nicht unüblich. Die damit verbundenen Gefühle können in Einzelfällen jedoch zu einer schwerwiegenden Identitätskrise anwachsen und den Betroffenen zur Suche nach einem neuen Zweck seines Lebens veranlassen. Dieser Unmut drückt noch keine Radikalisierung aus. Man spricht deshalb von „Präradikalisierung“, also einer Vorstufe.

2. Identifikation

In dieser Phase schließt sich der junge Mensch einer Gruppe von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten an – der sogenannten „Peer Group“. Der Zufall spielt dabei eine große Rolle. Gruppendynamische Prozesse führen dazu, dass Argumentations- und Verhaltensmuster weitgehend unreflektiert übernommen werden. Oder einfach gesagt: Man neigt dazu, sich so zu verhalten, wie es in der Gruppe üblich ist – und gut oder schlecht zu finden, was in der Gruppe als gut oder schlecht bewertet wird.

3. Ideologisierung, Indoktrinierung

Der Prozess der ideologischen Formung greift das unklare Gefühl der Unzufriedenheit auf und lenkt es in eine bestimmte Richtung. Die Idee von „uns“ (der Umma, das heißt der „Gemeinschaft der Gläubigen“), die sich gegen „die“, das heißt die Ungläubigen, verteidigen müssen, sichert eine starke Bindung zwischen den Anhängerinnen und Anhängern. Gleichzeitig entfernen und entfremden sich die Mitglieder von der Gesellschaft.

Der unzufriedene, suchende junge Mensch wendet sich einer sehr einseitig zugespitzten Weltsicht mit strengen Regeln zu. So findet er

  • einfache Antworten,
  • ein umfassendes „Gerüst“ aus sozialen und moralischen Normen und Werten, an denen er sich in jeder Lebenssituation orientieren kann: eine Ideologie.

Auf dieser Ideologie können terroristische Bewegungen oder Einzelpersonen nun aufbauen. Sie fördern die Überzeugung, dass sich die Gemeinschaft der Muslime in ständigem Zwang zur Selbstverteidigung befindet. So rechtfertigen sie schließlich als Antwort die Anwendung von Gewalt.

4. Mobilisierung

Auf diesem Fundament wächst die Bereitschaft, selbst an extremistischen oder terroristischen Aktionen teilzunehmen. Die überwiegende Mehrheit islamistischer Gewalttäterinnen und Gewalttäter wurde

  • durch Kontakte mit spirituellen Führern oder
  • durch die Bestätigung durch Gleichgesinnte

radikalisiert und zu gewalttätigen Handlungen bewogen. Die Gruppe vermittelt ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl, das ihnen vermeintlichen Halt in ihrem Leben gibt. Aufenthalte im Ausland und in dortigen Trainingslagern verfestigen häufig das Gruppengefühl. Zu den vermittelten Normen zählt die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen.


Fallbeispiel:  Wie sich ein Jugendlicher aus Bayern radikalisiert

D. wuchs in einem unauffälligen sozialen Umfeld auf und schloss erfolgreich die Realschule in einem bayerischen Ort ab. Anschließend begann er eine Ausbildung im Handwerk. Kurz vor der Gesellenprüfung brach er die Lehre ab. Er reiste als Kämpfer in den syrischen Bürgerkrieg, wo er wenig später starb. Wie konnte es zu dieser radikalen, tragischen Entwicklung kommen?

Rund zwei Jahre vor der Ausreise:
D. kommt mit der salafistischen Szene und mit islamistischen Predigern in Berührung. Er konvertiert zum Salafismus. Zuvor war er kein Muslim. Er besucht Moscheen in seiner Region und trifft junge Gleichgesinnte. Gemeinsam sehen sie salafistische und jihadistische Propagandavideos. Nach und nach entwickeln sie immer extremere Positionen. Den militanten Jihad – also den bewaffneten Kampf mit dem Ziel, das islamische Herrschaftsgebiet auszudehnen – sehen sie als höchste Pflicht. Von nicht-salafistischen Moscheen und Predigern grenzt sich die Gruppe scharf ab.
Nun fällt auch dem Umfeld von D. mit Entsetzen auf, dass er sich verändert. Er achtet besonders streng darauf, die Gebetszeiten einzuhalten, weigert sich, Frauen die Hand zu geben. Sein äußeres Erscheinungsbild passt er dem Look der Salafisten an – auch, um sich gegen „Ungläubige“ abzugrenzen.
Im weiteren Verlauf der Radikalisierung trainiert D. intensiv Kampfsport und macht Fitnesstraining. Um sich abzuhärten für den Kampf im Jihad-Gebiet, schläft er auf dem Boden und geißelt (peitscht) sich selbst. Um an Bargeld zu kommen, verkauft er fast alles, was er besitzt. Auch zu Jihadisten und Salafisten außerhalb Bayerns nimmt D. Kontakt auf. Er sucht Gesprächspartner, um seine Überzeugungen weiter zu festigen.
Dann versucht er, mit dem Flugzeug nach Syrien zu reisen. D. war den bayerischen Behörden bekannt. Um eine Ausreise zu verhindern, hatten sie u. a. bereits seinen Pass eingezogen. Deshalb scheiterte der erste Ausreiseversuch. Ein zweiter Anlauf gelingt: Diesmal nimmt D. den Landweg in die Türkei. An der türkischen Ostgrenze nimmt er Kontakt zu Jihadisten auf. Sie schleusen ihn in ein Jihad-Kampfgebiet in Nordsyrien.
Wenig später wird bekannt: D. ist in Syrien im Kampf gestorben.

Das Fallbeispiel stammt aus der Broschüre „Salafismus – Prävention durch Information, Fragen und Antworten“ des Bayerischen Innenministeriums. Der Text wurde redaktionell bearbeitet. Sie können die Broschüre im Bestellportal der Bayerischen Staatsregierung herunterladen bzw. bestellen.

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